Der Schulz-Zug fährt - aber der Kapitalismus frisst seine Kinder
Die SPD feierte heute ihren Martin Schulz. Alle Delegierten wählten ihn. 100 Prozent, das gab's noch nie. Von Oskar Lafontaine
Kritischen Beobachtern dürfte aufgefallen sein, dass Martin Schulz wenig konkret wurde und dass seine bisher gemachten Versprechen - längeres Arbeitslosengeld, weniger befristete Arbeitsverträge und kostenlose Bildung für alle - schon seit vielen Jahren von den Sozialdemokraten vor der Wahl versprochen werden. Und er sagte auch nicht, mit wem er diese Ziele umsetzen will und wie das bezahlt werden soll.
Dennoch: Einen Politikwechsel in Deutschland kann es nur geben, wenn die SPD sich programmatisch grundlegend erneuert.
Erstaunlicherweise hat Christoph Hickmann in der "Süddeutschen Zeitung" das Problem aller sozialdemokratischer Parteien in Europa erkannt: "Wie geht eine politische Bewegung, die seit langer Zeit nicht mehr die Abschaffung, sondern die Zähmung des Kapitalismus propagiert, mit der Erkenntnis um, dass dieses Wirtschaftssystem sich immer wieder als nur bedingt zähmbar erweist?"
"Bedingt zähmbar" ist aber eher eine Verharmlosung. In Wirklichkeit zähmt der Kapitalismus seine Politiker.
Dantons berühmter Satz aus Georg Büchners Drama, "Ich weiß wohl - die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder", gilt in übertragenem Sinne und in abgewandelter Form auch für den Kapitalismus: Er frisst seine Kinder.
Nur wenn die SPD den Mut und die Kraft aufbringt, sich den Machtstrukturen der Gesellschaft entgegenzustellen - darauf deutet zurzeit wenig hin -, hat sie eine Chance, die auseinanderdriftende Gesellschaft wieder zusammenzuführen und die Lebensbedingungen von Millionen Menschen zu verbessern.
Dazu muss sie die Agenda 2010, die Lohndrückerei und die Rentenkürzungen, vollständig zurücknehmen. Sonst wird sie ihre Wähler wieder enttäuschen.